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5. Tag, Arnardalsfjöll - Jökulsá á Fjöllum

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Copyright © Dieter Graser

Montag, 18. Juli 1994


5:20 Uhr, 8/8 Strat. Cum., nicht mehr ganz so windig wie am Vortag. Zum Frühstück Müsli und Tee. 6:15 Uhr, 6/8 Bedeckung, kaum mehr Wind und zur Wetterseite Süd sieht es sogar recht vielversprechend aus. "Toilette gemacht", rasiert im Öko-Sparprogramm bei minimalem Wasserverbrauch. Aufbruch gegen 7 Uhr. Zurück zur Piste und dann weiter. Es ist sonnig und gut zu Laufen auch wenn die erste Stunde der Rucksack noch drückt. Die Piste verläuft mehrere Kilometer fast gerade nach Westen.

Der Blick zurück läßt die Fahrspuren vor der dunklen Hügelkette am Horizont zusammenlaufen. Ich mache ein Photo, es wird wohl den Eindruck einer einsamen, monotonen Landschaft wiedergeben. Beim Wandern sieht man aber jeden Stein, jede Bodenunebenheit, jeden Wechsel der Beleuchtung durchziehende Wolkenschatten, man spürt den Wind, die Sonne, die Beschaffenheit des Bodens unter den Schuhsohlen, die körperliche Anstrengung, all die sinnlichen Wahrnehmungen der unmittelbaren Umwelt lassen kein Gefühl der Leere aufkommen. Ich bewege mich aktiv und willentlich in dieser Landschaft und ich belebe sie für eine kurze Zeit durch mein Anwesenheit. Ich bin nicht in einer Wildnis verloren solange ich mich in ihr bewegen kann. Die zeitweise Abwesenheit von anderen Menschen ruft kein negativ empfundenes Gefühl der Einsamkeit wach, sie erhöht die eher Neugier auf die nächste Begegnung.

Nach einer knappen Stunde verläßt die Piste die Ebene. Sie führt auf gleicher Höhe bleibend in ein gewundenes Tal zwischen abgerundeten, keine hundert Meter hohen Rücken aus stellenweise buntem Gestein. Der Untergrund wird zwar sandiger aber der stetige Wechsel der Perspektive macht das Gehen abwechslungsreich. Der Weg trifft schließlich auf eine 10 bis 20 Meter hohen, klippenartigen Wall eines alten Lavastroms. Eine Kulisse wie in einem Wildwestfilm. Zwischen den Klippen stehen die Wagen zweier isländischer Familien. Man grüßt, hält einen Schwatz - eine der Frauen kann Englisch. Ich bekomme eine Tasse Kaffee, denn es ist gerade Frühstückszeit vielen Dank, das war genau das richtige! Der Weg führt in die Lava und wird zu einer Berg- und Talbahn, geht in engen Windungen zwischen den Felsen hindurch aber gewinnt aber schließlich die Höhe des Lavafeldes. Ich habe damit den östlichsten Ausläufer des Ódášahraun, des "Untäterlavafeldes" im allgemeinen als "Missetäterwüste" übersetzt, erreicht. Das Relief wird jetzt etwas ruhiger aber immer noch umgeht die Piste flache Lavarücken, die schwarz und von Spalten durchzogen aus dem mit Bimsstein bedeckten Sand ragen mit dem die Vertiefungen zwischen ihnen aufgefüllt sind.

Brücke über die Kreppa
Kurz vor der Brücke über die Kreppa treffe ich ein junges holländisches Pärchen die hier gezeltet haben und gerade mit ihren Bikes zur Weiterfahrt aufbrechen. Sie waren es, die ich gestern Abend vom Zelt aus sah. Ja, es war sehr anstrengend und kraftraubend bei dem Seitenwind, aber heute wollen sie noch Dreki erreichen. Ich werde erst morgen Abend dort eintreffen, also bis dann! Ich mache noch ein Photo von ihnen, wie sie die Brücke überqueren. Der Heršubreiš gibt einen eindrucksvollen Hintergrund ab. Näher werde ich ihm auf dieser Route nicht kommen. In einer durch Feinmaterial abgedichteten Vertiefung in einem Lavablock steht eine Pfütze klares Regenwasser - gute Gelegenheit ein paar Becher auf Vorrat zu trinken. Die Kreppa ist reißend und grau vom Gletscherwasser. Die Ufer sind steil in die Lava eingeschnitten und in der näheren Umgebung scheint es keinen sicher Zugang zum Wasser zu geben. Aus gutem Grund habe ich die Gletscherflüsse Kreppa und Jökulsá á Fjöllum als "Trinkwassertankstellen" nicht in meine Planung mit einbezogen.

Es geht weiter nach Süden über die Krepputunga. Zuerst noch abwechslungsreich, in vielen Windungen, die sich aber zu Fuß oft abkürzen lassen, durch die Lava, dann aber flach und wieder eintöniger immer direkt auf die Pyramide des Upptyppingar zu. Der Heršubreiš liegt jetz berits hinter mir. Die Luft ist extrem klar und an den Hängen des Upptyppingar gibt es keine einen Maßstab gebende Details, so daß ich seine Höhe und Entfernung überschätze und ihm doch zügig näherkomme. Ein paar hundert Meter weiter westlich der Straße steht tatsächlich ein Regenmesser und eine Klimastation. Die Route umgeht den Upptyppingar auf der Ostseite und kommt der Karte nach der Jökulsá á Fjöllum weniger als einen Kilometer nah. Wie die Kreppa fließt sie jedoch in einer Schlucht und ist nicht einmal zu erahnen. Der Wind hat etwas zugenommen und vor den Höhenrücken der Heršubreišartögl scheint gelblicher Dunst zu hängen. Die Straße führt wieder durch ein zerklüftetes Lavafeld. Die Blöcke sind fünf bis zehn Meter hoch und wirken wie ein Labyrinth bizarrer, schwarzer Ruinen. Graugelber Bimsstein und Sand vom Wind zu Barchanen zsammengeweht füllt die "Straßenschluchten". Der Motorradfahrer von gestern kommt mir entgegen, er winkt nur kurz, indem er die Finger der Hand aufstellt, die selbst jedoch bleibt am Lenker, da der Untergrund sicher seine Tücken hat. Genau so schnell wie aufgetaucht, ist er hinter dem nächsten Block verschwunden. Er ist schon wieder auf dem Rückweg von der Askja und ich bin gerade mal 25 Kilometer weiter als bei unserer ersten Begegnung. Aber was hat er alles versäumt!

i wie Info
Im Schutz eines der letzten großen Lavablöcke mache ich Mittagspause - Brotzeitfelsen. Der SW-Wind ist ziemlich stark geworden und die gelben Schleier schieben sich nun auch vor den Heršubreiš. Staub und Sand, hier und auf meinem weiteren Weg ist es noch klar. Ich hoffe, daß es auch noch möglichst lang so bleibt. Sicherheitshalber stecke ich aber schon mal die Sturmhaube in die Hosentasche. Die Lavablöcke bleiben zurück und die Piste verläuft in gerader Richtung nach SSW auf den Lónshnúkur zu. Ein einzelnes Fahrzeug, ein Fjallabíl, hochbeinig mit übergroßen Reifen und etlichen Antennen kommt mir mit einer Staubfahne entgegen. Ich ziehe noch einmal dem Photo heraus. Der Wagen hat ein Schild mit dem Zeichen "i" für Information auf dem Dach. Er hält an und und der Fahrer kurbelt das Fenster herunter. Er fährt hier Streife und ist so etwas wie die Straßenwacht. Ja, es wird wohl einen Sandsturm geben, +20°C seien wirklich ungewöhnlich hier, aber der Wetterbericht meint, heute abend würde der Wind wieder nachlassen. Er fährt jetzt zur Brücke über die Kreppa, bleibt dort ein bis zwei Stunden und fährt dann auf dieser Strecke wider zurück, er würde nach mir Ausschau halten.

Es war zumindestens etwas beruhigend das zu wissen, da die Erfahrung "Sandsturm" zwar recht wahrscheinlich aber bisher nur hypothetisch, aber nun ganz real und unausweichlich, innerhalb der nächsten Stunde auf mich zukommen würde. Zuerst verdeckt der Staub im Süden die Bergkette der Kreppuöldur, dann fängt es mit zunehmend stürmischem Wind auch hier an. Die Sturmhaube bedeckt Mund und Nase, läßt nur die Augen frei, die durch die Gletscherbrille geschützt sind. Der Schild der Mütze hält ebenfalls viel ab und es knirscht es doch nicht allzu sehr zwischen den Zähnen. Unangenehmer ist eher noch der warme, trockene Sturm der das Gehen mehr und mehr behindert. Am Fuß der Kreppuöldur bläst er mir genau ins Gesicht. Die Piste verläuft in einer Art von flachem Tal zwischen dem Hangfuß und einer nur wenige Meter hohen Stufe zu einem alten Lavafeld. Ich nenne dieses Tal "Gassi Touil", es ist nicht die erste Erinnerung an die Sahara heute. Die Fahrspuren sind verweht und kaum zu erkennen. Der Sand in ihnen ist aber tief und weich. Immer wieder muß ich den Kopf heben um auf freigeblasenen Stellen einen härteren Untergrund zu finden. Unwillkürlich lernt man jeden Schritt so setzen, daß man auf die Luvseite der Sandrippeln tritt um nicht einzusinken. Das unregelmäßige Gehen kostet Kraft. Gegen den Wind helfen nur die Skistöcke die ich in Doppelstocktechnik, wie beim Langlaufen einsetze. Ich komme aber nur langsam voran. Der Sand treibt dicht über den Boden, aber der Staub und die Anstrengung trocknen den Mund aus.

Pause, ausruhen! Ich gehe hinüber zur Lavaseite und setze mich mit dem Rücken zum Wind auf einen Lavablock. Die Bergflanke auf der anderen Seite der Sandfläche wird durch einige Rinnen durchfurcht, die sich im oberen Hangdrittel trichterförmig erweitern. Im Trichter mir genau gegenüber und im übernächsten weiter südlich, liegt noch der Altschnee von Wächtenresten. Es ist das erste Mal auf dieser Tour, daß ich in die Nähe von Schnee komme. Ich hätte Mitte Juli mehr erwartet. Die ungewöhnliche Wärme hat wohl zu einer frühen Schneeschmelze geführt. Halt, da muß doch jetzt erst recht Schmelzwasser zu finden sein! In der Rinne gegenüber glitzert es auch feucht durch die Staubfahnen. Rucksack auf und hinüber. Ich habe zwar noch zweieinhalb Liter Wasser in Reserve aber die müssen bis morgen Abend reichen und jeder Schluck den ich jetzt hier bekommen kann habe ich für morgen aufgespart. Es ist wirklich nur ein dünnes Rinnsal das sofort im Sand des Hangfußes versickert. Ich nehme das Berghaferl, Falttrichter und die Kaffeefilter aus dem Rucksack und steige in der Rinne dem Wasser entgegen etwas bergauf. Der Wind bemüht sich sichtlich die Rinne mit Wächten aus Treibsand zu verschütten. Endlich wird das Gerinnsel etwas ergiebiger, aber das Wasser ist schwarz vom eingewehten Sand. Ich komme mir recht pfiffig vor, wenn das Wasser schon wie flüssiger Kaffeesatz aussieht, dann sind meine mitgeschleppten Kaffeefilter doch genau das, was ich jetzt brauche. Im zweiten Versuch gelingt es mir ein halbes Haferl trinkbares Wasser zu gewinnen. Allerdings weht mir der Sturm während dem Filtern wieder genügend Sand in den Becher um den Inhalt zum "Mineralwasser" zu veredeln. Während ich so beschäftigt bin donnert unten der "Informationswagen" auf seinem Rückweg durch den Sand. Bei seinem Tempo der Fahrer seine Augen wohl eher fest auf die verwehten Spuren gerichtet, als die Hangrunsen nach mir abzusuchen. Er sieht mich also nicht. Ich breche wieder auf.

Der Sand wird bald etwas weniger und nach meiner Karte müßte ich in etwa beim Kreppulón sein. Lón bedeutet soviel wie Lagune, Haff, hat auf jeden Fall etwas mit Wasser zu tun. Aber wieder einmal lassen sich reale Landschaft und Kartenbild nicht in Einklang bringen. Das einzige, was der Kreppulón hätte sein können, ist ein topfebenes Tal in dem sich besonders eindrucksvolle Staubwolken entwickeln. Ich folge weiter den Markierungspfählen. Die Reifenspur des Informationswagens ist meistens schon verweht, aber ab und zu erkenne ich die dünnen Spuren von zwei Mountainbikes. Immer etwas wackelig, oft mit einem Haken in tiefe Sandlöcher abgelenkt und prompt künden dann zwei Fußspuren vom ermüdenden Schieben. Ich weiß immer genau wer vor mir unterwegs war, ich kenne ihre Reifenmuster und kann sie oft über Tage verfolgen. Allerdings weiß ich nicht wer hinter mir ist und so weckt mich ein vorsichtiger Hupton aus meiner Fährtenlektüre. Bereitwillig räume ich die Piste für den Allradbus, der sich erfolgreich von hinten bis auf ein, zwei Meter angeschlichen hat. Soviel höfliche Rücksicht bin ich als Fußgänger von isländischen Busfahrern eigentlich gar nicht gewohnt, er wird doch nicht etwa schon seit einer Stunde hinter mir hergefahren sein bevor er wagte mich aufzuwecken!

Ich bin jetzt schon ein gutes Stück südlich des Upptyppingar und meiner Kartenskizze nach geht hier irgendwo die Abzweigung zur Askja ab. Es geht jedoch immer weiter nach SSW und die Abzweigung will und will nicht kommen. Meinem Gefühl nach bin ich schon zu weit im Süden, aber die wichtigen Abzweigungen sind gut beschildert und eigentlich nicht zu übersehen. Aber jeden Kilometer nach Süden muß ich dann wieder nach Norden zurück um zur Brücke über die Jökulsá á Fjöllum zu kommen. Knöcheltiefer Sand zwingt macht das Gehen in der Spur fast unmöglich und ich suche mir meinen Weg auf dem etwas härteren Untergrund neben der Piste. Auch Allradfahrzeuge kamen, den Spuren nach zu urteilen, hier nicht immer problemlos durch. Endlich kann ich weit voraus einen Wegweiser erkennen - na also! Der Sandsturm ließ mir die zurückgelegte Strecke viel größer erscheinen als sie tatsächlich war. Der Sturm ließ mich nicht nur langsamer vorankommen sondern hat auch mein Zeitgefühl etwas durcheinandergebracht. Als Fußgänger hat man keinen Kilometerzähler und so gehe ich nach der Uhr. Es scheint paradox, obwohl ich mir für diese Tour bis zu drei Wochen Zeit lassen kann und es, wenn ich genug zu essen habe, auf einen Tag mehr oder weniger nicht ankommt, ist mir die Uhr hier unverzichtbar.

An der Abzweigung treffe ich einen Landrover mit einem deutschen Paar. Sie haben das "Off Road Handbuch" aufgeschlagen und sind sich über den günstigsten Weg zu den Kverkfjöll im Unklaren. Bevor ich sie erreiche kommt mir noch die gute Idee die Sturmhaube unters Kinn zu ziehen, sonst meinen die braven Leute noch ein Missetäter wolle sie ausrauben! Ich kann ihnen Rat geben, da ich die bessere Karte(n) habe. Als Gegenleistung, und da wir gerade ganz "zufällig" von Wasser reden, reichen sie mir eine Plastikfasche "Egils Sódavatn" aus dem Auto heraus. Es ist zwar etwas lau aber es schmeckt vorzüglich und löscht den Durst!

Zur Brücke über die Jökulsá á Fjöllum sind es der Karte nach nur etwa 3 Kilometer. Erfrischt geht es nun nach NW weiter. Die Moral ist gut, aber es ist "der 3. Tag" und es war ein langer und schwerer Tag. Durch den Richtungswechsel kommt der Wind nun manchmal sogar von hinten und schiebt mit an. Es ist sogar weniger Sand in der Luft, aber trotzdem zieht es sich. Erreiche schließlich um 18 Uhr mein Tagesziel, die Brücke über die Jökulsá. Wie alle Brücken ist sie an einer Engstelle des Flusses und der führt jetzt gegen Abend ein beeindruckendes Schmelzhochwasser. Das graubraune Wasser scheint zu kochen und zu schäumen. Durch das Toben ist deutlich das Rumpeln des Geschiebes zu hören. Die Felsen im Uferbereich werden immer wieder von aufwallenden Wassermassen überspült. Wie schon an der Kreppa wäre es hier sehr schwierig an Wasser zu kommen. Am Gatter auf der Brücke ist ein Schild mit dem Hinweis, daß hier Camping nicht erlaubt und der nächste Zeltplatz Dreki nur 18 Kilometer entfernt sei.

Jökulsá á Fjöllum
Ich nehme es zur Kenntnis, bezweifle etwas die Entfernungsangabe und bemühe mich ebenso redlich wie vergeblich einen möglichst versteckten Platz für mein Zelt zu finden. Im Windschatten eines großen Felsblocks, im oberen Teil des Hochwasserbettes der Jökulsá, baue ich mein Zelt auf. Allen Anzeichen nach ist dieser Teil des Hochwasserbettes in diesem Jahr oder auch schon länger nicht mehr überflutet worden. Zum Abendessen gibt es nur zwei Scheiben Brot mit dem restlichen Hangikjöt und eine Tasse Wasser. Alles, aber auch gar alles im Zelt, meine Kleidung sowieso, ist voll schwarzem Sand und Staub. Jedes Mal wenn ich nur für einen kurzen Moment den Zelteingang öffnen muß wird eine neue Ladung hereingewirbelt. Ich sehe wahrscheinlich aus wie ein Kaminkehrer. Mit ziemlichem Widerwillen krieche ich in meinen sauberen Schlafsack. Die letzten Gedanken vor dem Einschlafen befassen sich ausgerechnet mit der Wahrscheinlichkeit von Gletscherläufen - wo es doch so viel beruhigendere Gedanken gäbe. Der Wind hat nachgelassen und es wird kühl.