Um halb Sieben aufgewacht. Alles in allem war die Nacht nicht sehr lang. Das Wetter sieht
ganz passabel aus. Ich bereite mich seelisch und ausrüstungsmäßig darauf
vor heute mit den Skiern nach Norden aufzubrechen, falls sich in der anderen Hütte
niemand finden sollte, der in diese Richtung fährt. Nach dem Frühstück
spreche ich also die ersten Fahrer an, die gerade ihre Jeeps beladen. Ja, nach Norden
fahren sie, es wird zwar eng, aber ich sollte mal mein Gepäck nur herbringen.
In kürzester Zeit raffe ich meine restliche Sachen noch zusammen und schreibe
noch ein paar Zeilen in das Hüttenbuch. Als ich meine Pulka zur anderen Hütte
schleppen will, kommt Kjartan auf mich zu und sagt mir, daß sie es sich anders
überlegt hätten und nun auch nach Norden fahren würden. In ihrem Wagen
wäre auch mehr Platz und sie hätten den anderen schon Bescheid gegeben. Die
Wodkatrinkerei war schlußendlich doch noch zu etwas nütze! Pulka, Rucksack
und Skisack werden auf der Ladefläche des Toyotas festgezurrt und schon fahren wir
zur "Tankstelle" an der Wetterstation hinauf. Ich habe nicht einmal Zeit mich von den
Österreichern zu verabschieden.
An der Zapfsäule steht schon eine Horde von Jeeps und wartet darauf vom Meteorologen
aufgetankt zu werden. Die bulligen Fahrzeuge brauchen im tiefen Schnee viel Sprit und
notfalls muß noch genug für die Standheizung übrigbleiben, um einen
Schneesturm überstehen zu können - also bis zum Rand auffüllen. Trotz
Sonne ist es kalt. Ein mäßiger Westwind treibt dünne Wolken so flach
über das Hochland daß sie an jedem besseren Hügel hängen bleiben.
Wir starten in einer Dreiergruppe nach Norden. Kjartan hat das GPS eingeschaltet und
steht im Funkkontakt mit den beiden anderen Fahrzeugen. Mit 30 bis 40 km/h wühlen
wir uns durch den Schnee. Irgendwie komme ich mir überflüssig vor. Heute
wäre sicher gutes Skiwetter und ich könnte gut vorankommen. Ich bedauere
ein wenig meine Entscheidung die Tour abgebrochen zu haben. Aber ein guter Tag will
noch nichts heißen, bis zur Ringstraße müßte ich auf Skiern
4 - 5 Tage rechnen. Andererseits, wenn alles klappt dann kann ich heute Abend schon in
Dæli sein.
Bei Hveravellir
Am Dúfunefsfell erreichen wir die Kjölurpiste und folgen ihr bis zur
Brücke über die Seyðisá. Zu meiner Überraschung verlassen wir
hier die Piste nach Nordosten. Kjartan meint, er selbst sei diese Route noch nie gefahren,
aber die beiden anderen Fahrer würden sie kennen. Wir folgen offensichlich dem alten
Kjalvegur Richtung Blanda und Strangakvísl. Für mich besonders nett,
weil ich dem Fahrer auch ohne Karte und GPS genau sagen kann wo wir uns gerade befinden
und wohin wir fahren. Trotz Winter und Schnee erkenne ich alle Warten und den den Wege
wieder, den ich schon zweimal zu Fuß gegangen bin. Die Blanda ist an der
Furt dick zugefroren und der Flußverlauf ist als solcher unter dem Schnee kaum
zu erkennen. Meinen beiläufigen Hinweis hätte ich zugunsten Eyðisī
Nervenruhe besser unterlassen sollen, da sie Flußüberquerungen auf
Eisbrücken nicht besonders schätzt. Über den Strangakvísl (nahe
bei meinem alten Zeltplatz) nehmen wir die Brücke und dann verlassen wir den "alten
Kjalvegur" und halten nördlich auf den Stausee Blöndulón zu.
Fjallabil
Es kommt zu einer unfreiwilligen Pause, da einer der Jeeps Probleme mit dem Differential
hat. Die drei Männer fühlen sich nun endlich richtig gefordert, haben im nu den
Werkzeugbestand einer mittleren Werkstatt bereitgelegt und kriechen unter den hochbeinigen
Jeep. Die Damen nutzen die Pause für ein Sonnenbad und ich für ein paar Photos
und eine Positionsbestimmung. Nach etwa einer halben Stunde geht es wieder weiter. Eine
der Frauen läßt sich an einem Seil auf Skiern hinterherziehen. Mit etwa 40 km/h
geht es weiter nach Norden. An einer großen Hütte, die im Sommer offensichtlich
von einem Reittouren-Veranstalter genutzt wird, machen wir eine Brotzeitpause. Die
nächsten Wegpunktkoordinaten werden ausgetauscht und die Führungswechsel
werden abgesprochen. Es geht durch ein weite, flach wellige Landschaft weiter nach
Norden. An den Stellen wo die Straße auf einem Rücken oder über eine
niedrige Erhebung führt, ist durch die verblasene, dünne Schneedecke
gut erkennbar. Der Jeep mit der Skifahrerin hinter sich vermeidet aber lieber diese
steinigen Stellen und versucht in den schneereicheren Mulden zu bleiben. Aber dann
verschwindet sie wieder für Kilometer und Kjartan grinst zufrieden als Ihn sein
Boots-GPS punktgenau zu einem einsamen Wegweiser leitet. Der Himmel ist etwas bedeckt,
trotzdem ist die Sicht klar und im Osten erkennt man die Pyramide des Mælifell
und weit im Westen markiert ein Sendemast und eine Reihe von gerade noch erkennbaren
Leitungsmasten die Kjölur-Piste.
Zwischen den Wagen bricht reger Funkverkehr aus. Wir sind den anderen voraus und Kjartan
erklärt mir, daß wir uns hier irgendwo mit einem vierten Fahrzeug treffen
sollen. Wir halten an und lassen die anderen beiden Fahrzeuge aufschließen. Nach
wenigen Minuten Warten erscheint ein weiterer Jeep über einen Hügel und
hält auf uns zu. Es ist der junge Bauer von Hof Steiná, mit dem wir hier
verabredet sind und der uns vom Plateau des Hochlandes in das Svartádalur
hinunterlotsen soll. Er hat seine ganze Familie zu diesem kleinen Ausflug mit eingepackt
und die Kinder winken uns durch die Autoscheiben zu. Langsam fällt das Gelände
nach Nordosten ab und ich bedauere, daß meine Ski fest auf der Ladefläche
verzurrt sind. Schließlich geht es über einen langen, mäßig geneigten
Firnhang hinunter ins Svartádalur.
Direkt bei dem Hof Steiná beginnt die Scheedecke sich in große Flecken,
zwischen denen graubraunes Gras des letzten Jahres zum Vorschein kommt, aufzulösen.
Als wir am Hof angekommen aussteigen empfängt mich milde Luft und eine Geruchsmischung
aus erstem Frühlingstag und Landwirtschaft. Die Sonne hat den Matsch vor der Scheune
angetaut und der Hofhund weiß gar nicht wen von den Angekommenen er zuerst
begrüßen soll. Die Kinder des Bauern hüpfen aus dem hohen Auto und haben
praktischerweise alle Gummistiefel an den Füßen. Alles scheint auf einen
Ostersonntagnachmittagskaffee hinauszulaufen aber Kjartan und Eyðis drängt es
weiter. Sie wollen heute noch über die Ringstraße nach Reykjavík
zurück und das bedeutet noch 5-6 Stunden Fahrt. Mir ist es nur recht wenn ich
möglichst bald zur Ringstraße komme. Zuerst müssen die Spezialreifen des
Jeeps mit dem eingebauten Kompressor von 1.2 bar wieder auf straßentauglichen
Druck gebracht werden bevor wir auf der aufgeweichten Schotterstraße das Tal
hinausfahren. Überall tiefe Pfützen, manchmal noch hohe Schneemauern an der
Bergseite der Straße. Aber die Sonne hat schon Kraft und südexponierte
Hänge sind schon schneefrei. Das Eis der Svartá ist schon aufgebrochen
und die Schollen treiben im Fluß. Einige Pferde suchen zwischen den Altschneeresten
nach letztjährigem Gras. Ostersonntag der 30. März, der erste Frühlingstag
in Nordisland? Im Vergleich zu den Verhältnissen im Hochland will es mir so
vorkommen, aber es ist noch zu früh im Jahr. Ernsthaft Frühling wird es hier
erst im Mai und selbst Ende Juni kann noch Schnee liegen.
Bei der Schule von Húnaver rufe ich mit dem Autotelephon noch schnell Óskar
in Dæli an und teile ihm mit, daß ich die Ringstraße erreicht habe. Zwar
bin ich nun im Norden, aber immer noch etwa 140 km von Dæli entfernt. Wir laden Pulka, Ski- und Rucksack von der Ladefläche des Jeeps und Kjartan und Eyðis verabschieden sich in Richtung Reykjavík. Vielen Dank für alles! Es ist etwa 3 Uhr Nachmittags und ich habe es überhaupt nicht eilig. Ich fühle mich als hätte ich nun alle Zeit der Welt - und das ist auch die richtige Einstellung, denn der Verkehr auf der Ringstraße ist alles andere als dicht. Alle 5 Minuten mal ein Auto und die meisten davon in Gegenrichtung unterwegs. Viele sind vollbesetzt und haben Ski auf dem Dach, sie kommen offensichtlich vom Skigebiet bei Akureyri. Den Daumen brauche ich sowieso nur bei Autos rauszuhalten, die so aussehen als könnten sie mein Gepäck auch noch mit verstauen. Nach einer Dreiviertel Stunde klappt es, eine Frau mit einem kleinen Suzuki-Jeep nimmt mich mit. Der Schlitten paßt gerade noch hinten rein und der Skisack stößt vorne an der Frontscheibe an. Von der Frau erfahre ich, daß heute am Ostersonntag keine Busse fahren, sie
kann mich auch nur bis ins Skagafjörðurtal mitnehmen. Im Vorbeifahren sehe ich
daß Tankstelle, Supermarkt und Restaurant von Varmahlið, im Sommer die
große Touristendrehscheibe des Skagafjörður, geschlossen sind. Auf der
Ostseite des Tales setzt sie mich dann an einer Kreuzung ab.
Ringstraße
Es ist sonnig, ich futtere erst mal zwei Müsliriegel und trinke etwas heißen
Tee und schaue mir die Berge an. Von meinem Standpunkt aus kann ich jedes Fahrzeug das
Richtung Akureyri fährt schon sehen, wenn es von der Vatnsskarð hinunter nach
Varmahlið fährt. Ich habe als gut 5 Minuten Vorwarnzeit. Aber nur selten
fährt ein Fahrzeug in meine Richtung. Schließlich geht es aber auch von hier
weiter. Ein junger Bursche mit einem dicken Mercedes nimmt mich mit. Die offizielle
Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften beträgt in
Island 90 km/h - wir donnern mit 180 km/h die Straße das Tal hinauf. Mein Chauffeur
grinst nur und meint trocken "Itīs just bad habits". Ich kann ihm da nur zustimmen.
Na gut, die Straße ist recht breit, sehr übersichtlich und sogar geteert,
aber bei manchen Bodenwellen knalle ich mit dem Kopf ans Wagendach. Gott sei Dank ist
kaum Verkehr! Über den Paß der Öxnadalsheiði geht es etwas
verhaltener, oben liegt sogar noch etwas Schnee auf der Fahrbahn. Bergab und etwas
tiefer wird die verlorene Zeit aber wieder hereingeholt und auf dem neu ausgebauten
Teilstück lese ich aus dem Augenwinkel 210 km/h vom Tacho ab. Zwangläufig
wendet sich das Gesprächsthema der Qualität von Autos zu.
Noch während dem Ausladen an der Abzweigung nach Dalvík ergibt sich gleich
eine Mitfahrgelegenheit mit einer Familie aus Ólafsfjörður. Der Mann
spricht leidlich englisch und ist erst vor ein paar Jahren mit Frau und Tochter aus den
Westfjorden hierhergezogen und jetzt kommen sie von einem Osterausflug nach Akureyri
zurück. Während er munter drauflos redet ist seine Frau offensichtlich gar
nicht begeistert, daß er unbedingt diesen Fremden mitnehmen will. Kurz vor
Dalvík, an der Abzeigung ins Svarvaðardalur, setzen sie mich ab. Als der
Mann mir zum Abschied die Hand schüttelt, tut er dies mit mit einer Pranke, die
in der Abgeschiedenheit der Westfjorde, auch über die lange Reihe seiner Vorfahren,
wohl nichts an der anatomischen Eigentümlichkeit verloren hat, die sie vor 1000
Jahren befähigt hatte mal eben über den Atlantik zu rudern.
An der Abzweigung warte ich nun darauf, daß irgendwer mal taleinwärts fahren
würde. Aber Fehlanzeige. Ich genieße noch eben die letzten wärmenden
Sonnenstrahlen und überlege ob ich vom Ort aus wohl in Dæli anrufen
könnte als die örtlichen Lögreglan (Polizisten) schon zum zweiten mal an
mir vorbeifahren und sehr neugierig, wenn nicht sogar mißtrauisch, zu mir
herüberschauen. Ich werde das Gefühl nicht los, daß es nützlicher
wäre, wenn sie auf der Ringstraße etwas mehr die Einhaltung der
Höchstgeschwindigkeit überwachen würden, als hier, einen halben
Kilometer vor dem Eismeer einen Fremden so seltsam anzuschauen. Nachdem ich immer
noch dastehe halten sie an und fragen wo ich denn hin wolle. "To Dæli" sagte ich.
"To Óskar Gunnarson?"- "Já" - "You may call him ..." und der eine Polizist
reicht mir sein Handy aus dem Auto. Aber trotz dieser Geste wirken sie nicht gerade
freundlich. Ich erwische Óskars jungen Sohn Thómas am Telephon und keine
Viertelstunde später kommt Óskar mit dem roten Volvo das Tal herausgedonnert.
Er klettert aus dem Auto und drückte mich bärenmäßig an seinen
Stalloverall - von wegen spröde Isländer. Er grinst erstaunt, daß die
Polizei mich ausgerechnet ihn anrufen hat lassen. Ich kapiere nun gar nichts mehr,
aber Óskar meint nur "This is another story ..., letīs first go home"