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Der Wecker piepst um 5:00 Uhr. Werde nur schwer wach. Das Wetter scheint brauchbar zu sein. Bedeckt, kein Wind. Nur von der
Küste her schiebt sich langsam Nebel den Skeiđarárjökull hinauf. Aber das war die letzten Tage ebenfalls so und
das ist auch typisch für Island. Komme um 7:00 Uhr in die Gänge.
Kilometermäßig ist die Querung des Skeiđarárjökull eigentlich ein mittlerer Klacks. 15 km insgesamt, davon 12,5 km über
den Gletscher.
Aber wer weiß, was der Gletscher für Überraschungen bietet? Erst mal geht es stetig bergauf zur Nordostseite des Grćnafjall.
Der Blick hinunter zum Grćnalón ist bei diesem Wetter nicht besonders attraktiv. Ohne Sonne bekennt sich das Wasser zu
seiner Eigenfarbe: graubraun. Stoße wieder auf die Spuren meiner Vorgänger, aber sie zeigen auch, daß sie wieder zurück nach
Westen gegangen sind. Kurz unterhalb des Rückens der mich noch vom Eis trennt fällt mich schon der bissig kalte
Gletscherwind an. Gelegenheit im Schutz eines großen Felsblocks die warmen Sachen anzuziehen. Lange Hosen, Anorak, Mütze und
Handschuhe.
Dann geht es wieder über Buckel aus morschem, milchigweißen Eis. Ein weiteres Band mit schwarzem Eis ist schmäler und weniger
unwegsam als das erste Feld. Dafür stoße ich auf 2-3 größere Gletscherbäche, über die ich erst einem Übergang suchen muß. Es
ist schon Nachmittag geworden und ich habe gut den halben Weg über den Gletscher geschafft. Die Sichtweite ist im Nebel auf
etwa 200 m gesunken. Mein Kompasskurs ist 150°. Ich quere zwei Zonen in denen die Schichtung des Eises fast senkrecht steht.
Hier sind die Buckel fast vollkommen verschwunden und das flache Eis ist wie von feinen blauen Bändern durchzogen.
Gegen 15:00 Uhr erkenne ich
halblinks voraus einen dunklen Schatten, der sich langsam als ein flacher Bergsporn konkretisiert, der in den Gletscher
hineinragt. Der Karte nach müßte das die die Nordbegrenzung der Gletscherbucht des Norđurdalur sein. Auch auf Kurs scheint der
Nebel über dem Horizont dunkler zu werden.
Und auch das Eis verändert sich. Die Buckel werden noch höher und der Gletscher hat nun ein leichtes, aber merkbares, Gefälle
auf mein noch unsichtbares Ziel hin. Mein Füße schmerzen. Zehn Meter vorwärtskommen bedeutet zehn Meter Kletterei. Selten kann
der Fuß gerade auftreten. Meist ist er seitlich gekippt an einem Buckelhang und der nächste Schritt spreizt schon wieder hinüber
zum nächsten. Ohne die Hilfe der Stöcke wäre ein halbwegs vernünftiges Gehen gar nicht möglich. Fast ohne Übergang komme
ich in eine Spaltenzone. Die Spalten schneiden meinen Kurs in einem Winkel von etwa 30° und haben einen Abstand von 10 - 20 m.
Manche weniger. Um in der richtigen Richtung voranzukommen muß ich oft hundert Meter wieder zurück gehen, um einen Übergang zu
finden.
Meist sind die Spalten nur 100 - 200 m lang, aber sie sind tief und breit. Es ist sehr mühsam. Dennoch komme ich in keine
Sackgasse. Ohne Grödel an den Füßen wäre ich verloren. Ich kann mich blind darauf verlassen, daß der Fuß Halt findet.
Manchmal hilft ein zügiger Sprung, dann wieder ein mutiger Tritt auf eine nur handbreite Eisrippe, meist aber nur
zeitraubendes Umgehen auf dem schmalen Kamm zwischen den Spalten. Jeder Schritt fordert 100%ige Konzentration. Ich spüre die
Anstrengung und die beginnende Erschöpfung. Keine Pause - Halt nur, um mit den Augen den weiteren Weg zu suchen - ich muß
die Spannung halten. An Photographieren denke ich nicht einmal. Hundert Meter Umweg um 10 Meter vorwärts zu kommen.
Aus dem dunklen Schatten voraus ist eine schwarzgraue,
felsdurchsetzte Schuttwand geworden. Wieder einmal ziehe ich das GPS zu Rate. Da soll es hinaufgehen? Ich zweifle an der
Richtigkeit der Koordinaten. Über der Schuttwand, etwa 150 m über dem Gletscher die deutliche Kante eines Plateaus. Wenn die
Wegpunkte und das einzige Photo, welches ich von dem Zeltplatz im Norđurdalur kenne übereinstimmen, dann muß dieser dort oben
auf diesem Plateau sein. Ich weiß, daß jeder Hang in der Draufsicht steiler wirkt, als er tatsächlich ist. Trotzdem werde
ich den Aufstieg weiter östlich, am einem Grat, der zum Plateau hinaufzieht, versuchen. Dieser ist vielleicht nicht weniger
steil aber sicher weniger steinschlaggefährdet als diese Schutthalde.
Die letzten Meter auf dem Eis sind denkbar einfach. Die großen Spalten sind ebenso plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht
sind, und ich gehe über einen ebenen, schmutziggrauen Eishang, der nur von ein paar Schmelzwasserrinnen und einigen harmlosen
Spältchen duchzogen ist. Um 17:00 Uhr trete ich vom Eis auf die an den Hang gedrückte, trockene (!) Moräne. Ich habe die Querung
des Skeiđarárjökull geschafft! So richtig freuen kann ich mich darüber nocht nicht, denn vor mir türmt sich das nächste Problem.
Eigentlich fühle ich mich fix und fertig, aber ich habe keine andere Wahl und muß noch da hinauf. Ohne lange Pause - die Grödel
bleiben an den Füßen - gehe ich es an. Der Hangschutt ist erstaunlich stabil und nur selten rutscht ein Schritt zurück. Ich
habe die Stöcke auf 115 cm verkürzt. Langsam, langsam gehen! Ich habe alle Zeit der Welt! Die Atemfrequenz muß
gleich bleiben und bestimmt so den Rythmus der Schritte. Meter für Meter stemme ich mich höher. Nicht nach unten schauen
und auch nicht hinauf, wo die großen Blöcke so labil im Hang liegen. Ich erreiche den Grat und es wird nun flacher und sicherer.
Der durch die Aufstiegstätigkeit bedingte starre Blick auf den Boden offenbart nicht nur verschiedenste
bunte Steine, sondern auch erstaunlich viele seltene Blumen zwischen dem leuchtend grünen Moos. Endlich habe ich das Plateau
erreicht. Dank einer Laune der Geologie klebt es wie ein Balkon am Hang. Ein Logenplatz über dem Gletscher.
Das Plateau ist in der Mitte durch eine Bresche in der Wandstufe unterbrochen. Ich deponiere meinen Rucksack und verschiebe
die Zeltplatzsuche bis ich Wasser gefunden habe. Meine Thermos birgt nur noch eine Tasse warmen Tees und ich fühle mich wie
ausgedörrt. Ich schnappe mir die Wasserflasche und gehe auf die Schneefelder zu, die dort hinten aus dem Nebel kommend
steil von den Bergen ziehen. In einer dieser Rinnen muß sicher etwas Wasser zu finden sein. Die Berge, ja diese Berge!
Plötzlich reißen die Nebel ein wenig auf und enthüllen halb atemberaubende Türme, Zinnen und Nadeln von einer Wildheit, wie
ich sie in Island noch nicht gesehen habe. An der vermuteten wasserführenden Rinne ein kleiner Trampelpfad. Aha, da ist also
die übliche Wasserstelle! Zu dumm, daß ich nur die Flasche mitgenommene habe, aber die Wassersäcke waren ganz unten im
Rucksack. Werde noch mal zurückkehren müssen.
Zurück beim Rucksack das Zelt auf moosigem Boden aufgebaut, noch einmal Wasser geholt, die nassen und durchgeschwitzten
Klamotten ausgezogen und mir ein Abendessen gekocht. Nach dem Abendessen nur noch eine halbe Seite an den Aufzeichnungen
geschafft. Bin zu müde und erschöpft. Morgen lege ich wie geplant einen Ruhetag ein!
Skeiđarárjökull
40 Minuten nach Aufbruch vom Zeltplatz stehe ich am Gletscherrand. Ein kleines Randseelein will ich erst links umgehen,
versacke dabei beinahe und versuche es dann auf seiner rechten Seite, wo ich auch ohne weitere Probleme auf das flach
auslaufende Eis komme. Ich halte mich zuerst etwas nordöstlich, um eventuellen Spalten auszuweichen, da der Getscher hier
das Tal des Grćnalón einzubiegen beginnt. Mein Ziel, die Skaftafellsfjöll, sind noch gut sichtbar, obwohl die Gipfel schon
in den Wolken stecken und um ihren Fuß Nebelbänke ziehen. Von Süden scheinen doch dichtere Wolken aufzuziehen. Das Eis ist zu
Beginn flach und gut zu gehen. Bald wird es zunehmend buckliger und diese Buckel sind etwa einen Meter hoch und damit deutlich
höher als die auf dem Síđujökull. Lege die Grödel an. Damit habe ich auf den stark geneigten Buckelflanken sicheren Griff. Ich
versuche so weit wie möglich zwischen den Buckeln zu gehen, aber das ist der reinste Slalom und die günstigste Richtung liegt
meist nicht auf meiner Kurslinie. Den Blick konzentriert auf dem Boden, versuche ich trotz allem, flott voranzukommen. Als
ich einmal wieder aufblicke, haben Nebel und Wolken die Skaftafellsfjöll und damit meine Peilmarken verschluckt. Halbrechts
erkenne ich noch gut die Súlutindar. Ich muß langsam dazu übergehen meinen Kurs mit GPS und Kompass zu bestimmen.
Nieselregen setzt ein und die Sicht verschlechtert sich weiter. Langsam nähere ich mich einer Zone mit von schwarzem Sand
(vulkanische Asche) bedeckten Eis. Lange vorher schon habe ich sie als schwarzen Streifen ausgemacht. Von Satellitenbilder
her weiß ich, daß diese Zone etwa in der Gletschermitte liegt und sich in weiten Schlieren nach Süden zieht. Vorher aber werden
die Buckel weniger und flacher und stattdessen tauchen zum ersten Mal breite Spalten auf, die umgangen werden müssen.
Skeiđarárjökull
Dann beginnt das Gebiet des "schwarzen Eises". Ein sehr hoher, schwarzer Kegel, auf dem zu allem Überfluß ein schwarzer,
zackengekrönter Turm trohnt, bergrüßt mich am Eingang zu einem düsteren Land. Die isländischen Bergführer nennen dieses
Gebiet "Black Forest" - "Schwarzwald". Aber das klingt zu idyllisch - mir fällt da nur Mordor ein. Es ist die gleiche
Erscheinung der Ablationskegel wie
ich sie vom Síđujökull und vom Brúarjökull her kenne, nur von einer ganz anderen Dimension. "Reliefumkehr" ist das Zauberwort.
Keine runden Buckel, sondern spitze Kegel. Keine Spalten, sondern scharfkantige Wälle. Alles bedeckt von einer nur wenige
Zentimeter dicken Ascheschicht. Nur in den häufigen Schmelzwasserrinnen wird blankes, tiefblaues und unverwittertes
Gletschereis sichtbar.
Ich befinde mich in einem Labyrinth. Alle dennoch irgendwie geordnete Strukturen dieser fremdartigen Formenwelt, ich nenne
sie "Straßen", verlaufen in stumpfen Winkel zu meiner Kurslinie und drängen mich nach Süden ab. Ein Versuch direkt auf Kurs
weiterzukommen scheitert in übermannshohen Kegeln, zwischen denen ich kaum einen Fuß setzen, aber die Flanken nach rechts und
nach links mit den ausgetreckten Händen berühren kann. Die Sichtweite beträgt keine 5 Meter. Ich kehre auf eine der
Straßen zurück und folge dieser nach Süden. Schließlich endet dort das Gebiet des "Black Forest". Zeit und Kraft hat diese
Zone des schwarzen Eises allemal gekostet.