19. Tag, Haukagilsheiši - Reykir

Inhalt Home

Dieter Graser © 2010

Montag, 3. September 2007


Wache nachts auf, weil es mir im Schlafsack zu warm wird. Wind ist aufgekommen. Ein kurzer Blick durch die Zeltlüftung offenbart einen bedeckten Himmel - das Wetter hat sich umgestellt.

Der Wecker hat es heute schwer mit mir. Habe nicht besonders gut geschlafen. Mein Rücken ist verspannt und wusste nicht, wie ich liegen soll. Trotzdem bin ich Punkt 8:00 Uhr abmarschbereit. Versuche wie üblich den Rucksack über das ausgestellte rechte Bein auf den Oberschenkel zu ziehen und ihn dort abzusetzen. Autsch - das Kreuz! Der verspannte Rückenmuskel zeigt mir überdeutlich was ihm nicht gefällt. Mühsam schleife ich den Rucksack zu einer kleinen Hangstufe, schaffe es ihn hinaufzuzerren, setze mich vor ihn auf die Stufe, schlüpfe in die Gurte und ziehe den Hüftgurt fest. Dann den Oberkörper leicht nach vorne kippen und nur aus den Beinen heraus aufrichten. Das ist die einzige Methode das Rucksackgewicht vom Rücken fern zu halten. Uiuiui - es geht - wenn auch nur unter Ächzen. Die ersten Schritte sind eine Katastrophe. Ich meine, ich schaffe so keine hundert Meter. Aus Erfahrung weiß ich, daß ich mich "locker laufen" kann, aber noch fehlt mir jedes Vertrauen, daß es auch diesmal wieder gelingt. Die erste halbe Stunde auf der Piste ist eine Qual, dann wird es langsam besser.

Ich bin mehr als genug mit mir selbst beschäftigt aber registriere mit Sorge die Wetterentwicklung. Im Süden hängt unter einer geschlossenen, hohen, grauen Wolkendecke ein scharf begrenztes, drohend dunkles Wolkenband. Über dem Hofsjökull ein heller Streifen als Andeutung einer Föhnlücke. Alle Zeichen stehen auf Sturm. Am Hrútfell scheinet es zu regnen. Ein bissig kalter Rückenwind treibt mich nach Norden. Habe keine Zeit Photos zu machen, oder die Position von Warten aufzunehmen. Sie befinden mal ober- und mal unterhalb der Piste, aber selten mehr als 20 m von ihr entfernt.

Schließlich erreiche ich das Gatter auf der Passhöhe des Übergangs in das Męlifellsdalur. Dort haben sich ca. 40 Schafe versammelt und wollen offensichtlich auch das Hochland verlassen. Ich habe noch nie gesehen, daß sich Schafe im Hochland von selbst zu einer Herde zusammenschließen. Aber nur der Zweibeiner kann den Riegel öffnen. Ich habe das Gefühl das Wetter gibt mir zum Abschluß einen Tritt in den Hintern. Schluß, aus, raus mit Dir aus dem Hochland - es ist Herbst! Ein kurzer Blick zurück und ich schließe das Gatter hinter mir. Die Schafe müssen eben noch ein paar Tage warten, dann ist Göngur, der Schafabtrieb, und sie werden abgeholt.

Der Wind fällt in heftigen Böen in das Hochtal und dessen Düsenwirkung verstärkt sie noch zusätzlich. An einer Stufe in der Böschung der Piste setze ich vorsichtig den Rucksack ab und ziehe Anorak und die Regenhülle des Rucksacks heraus. Langsam mischt sich feiner Niesel in die Böen. Ich muß aufpassen, daß mich der Wind bergab nicht zu sehr anschiebt und ins Stolpern bringt, denn solche abrupten Bewegungen bekommen meinem Rücken gar nicht. Immerhin kann ich wieder meine normale Gehgeschwindigkeit aufnehmen. Mein Rücken hat sich endlich einigermaßen mit seiner Aufgabe arrangiert. Trotzdem, für mich ist die Tour zu Ende. Mit dem Gatter liegt das Hochland hinter mir. Mein Weg führt jetzt durch das langgestreckte Męlifellsdalur hinunter in das Tal des Skagafjöršur. Die eigentliche Hochlanddurchquerung ist damit geschafft. Sollte ein Geländewagen auf dieser Piste talauswärts fahren, so werde ich diesen anhalten. Ein frommer Wunsch - es ist Montag Vormittag, da ist es höchst unwahrscheinlich, daß es hier Verkehr gibt. Tatsächlich kommen mir zwei Fahrzeuge entgegen: ein Pickup und ein Radbagger der Straßenbaubehörde. Bis die wieder talauswärts fahren wird es Abend.

Mittlerweile saut es mich so richtig ein. Auch wenn die Trekkinghose schon naß ist und mich das sonst wenig stört, die Regenhose würde wenigstens den eisigen Wind abhalten. Also wieder vorsichtig den Rucksack auf einem geeigneten Felsblock abgesetzt und nach der Hose gefischt. Da nur eingeschränkt beweglich gestaltet sich das Anziehen der Hose ziemlich umständlich. Währenddessen wirft eine hinterhältige Bö den Rucksack in den Dreck - ich fluche. Da er nun schon mal am Boden liegt hole ich drei Müsliriegel aus der Deckeltasche. Der Tee ist mir zu weit in den Tiefen des Rucksacks vergraben. Mühsam zerre ich das Ungetüm wieder auf den Felsblock. So - jetzt sich wieder davorsetzen, Arme einfädeln und das Gewicht langsam aus den Beinen heraus zur Hochstrecke bringen.

Męlifellsdalur
Langsam trotte ich weiter. Der Regen knallt von hinten an die Anorakkapuze und die Handschuhe sind vollkommen durchnäßt. Trotzdem schützen sie die Finger vor der Kälte. Irgendwie hat das Wasser auch den Weg in die Stiefel gefunden. Inzwischen ist mir alles gleich. Schritt für Schritt - Kilometer für Kilometer trotte ich talauswärts. Ich weiß, ich bin früh dran und trotz meiner Behinderung komme ich gut vorwärts. Wenn die Moral nicht so zum Teufel wäre! Wind und Regen prügeln mich aus dem Tal. Hier einen frühen Übernachtungsplaz zu suchen habe ich schon aufgegeben - einfach weiterhatschen - das Tal ist ja "nur" 20 km lang. Irgendwann komme ich zu der Überzeugung, daß ich das heute noch schaffen kann. Jetzt muß der Rucksack auf dem Rücken bleiben sonst bekomme ich ihn nicht mehr hoch. Immer mal wieder finde ich einen einen Felsblock oder einen Žúfur auf den ich mich setzen kann und der den Rucksack dabei abstützt um den Rücken zu entlasten.

fertig
Für fünf Minuten setzen Wind und Regen aus. Ich setze mich auf einen passenden Stein und mache schnell ein Photo vom Talausgang und vom Męlifell. Nun öffnet sich das Tal und mündet über einen flachen Hang in das breite Tal des Skagafjöršur. Tiefer am Hang schon die ersten Bauernhöfe und, typisch Island, ein idyllischer Autofriedhof. Unten im Tal die Häuser der Siedlung Reykir. Ich erkenne den alten Torfhof neben der Kirche, flache Bungalows, das Schulgebäude mit dem Schwimmbad und dem Zeltplatz. Ich erreiche die ersten eingezäunten Weiden. Dann bildet die Piste eine ewig lange Gerade. Kurz vor der Brücke über die Męlifellsá kommt mir eine Reitergruppe (nur Isländer) mit losen Pferden entgegen. Die erste Vorhut des Schafabtriebes? Na dann viel Spaß im Hochland - aber sie sollten es gewohnt sein.

Am Ende der Piste ein Straßenschild: "Hveravellir 119 km". Auf dem Reitweg sollten es nur 80 gewesen sein. Wie zum Hohn kommen jetzt auch der Pickup und der Radbagger wieder aus dem Tal herausgefahren. Per Handzeichen und mit fragendem Blick deute ich nach Norden Richtung Varmahliš. Der Fahrer des Pickups lacht und deutet nach Süden - Pech gehabt, dann eben ein ander Mal. Ich schwenke auf die Haupstrasse 752 des Tales ein. 12 km bis Varmahliš, 2 km bis Reykir. Immerhin fahren zwei Fahrzeuge in meiner Richtung - auch ein leerer Reisebus. Aber niemand hält für mich an. Meine Chancen sind auch denkbar schlecht - ich sehe wohl nicht nur aus wie ein nasser Hund, wahrscheinlich, denken sie, rieche ich auch so. Gut - damit fällt die Entscheidung für Reykir. Die letzen Meter rüber zum Ort. Ich hasse Teerstraßen! Im Tal läßt der Regen nach. Von Süden her reißt es blaue Löcher in den Himmel. Der Wind ist stark, böig und deutlich wärmer geworden. Über der Talmitte zeigen sich linsenförmige Wolken: Föhnsturm.

Vor dem alten Schulgebäude knattert die Fahne des isländischen Verbandes "Ferien auf dem Bauernhof". Das bedeutet, die alte Schule ist zu einem Gästehaus umfunktioniert worden. Das neue Gästehaus Steinstašir kommt mir so gerade recht. Mein Rücken verlangt nach einem richtigen Bett. Das Gebäude ist offen, aber weder von Gästen noch von Personal ist etwas zu sehen. Macht nichts - mein Rucksack landet auf dem Boden der Eingangshalle und ich weiß, daß ich ihn heute sicher nicht mehr auf meine Schultern kriegen werde. Ich krame nach meiner Thermos, denn ich habe heute noch nichts getrunken, setze mich auf einen Stuhl und schaue mich um. Erschöpft atme ich durch, versuche zur Ruhe zu kommen. Seit heute Morgen bin ich ohne nenneswerte Pause durchgelaufen. Jetzt spüre ich die Anstrengung. An der gläsernen Eingangstür hängt ein Infozettel mit zwei Telephonnummern. Zu müde um aufzustehen entziffere ich die Nummern in Spiegelschrift. Mein Handy hat Netz, also rufe ich an. Ja, es kommt gleich jermand vorbei - gut! Rufe Zuhause in München an und gebe, wie abgesprochen, ein erstes Lebesenszeichen seit 19 Tagen. Dann kommen auch schon zwei Damen und ich bekomme ein Zimmer mit großem Bett und eigenem Bad zugewiesen. Ein Frühstück wird für morgen auf 9:00 Uhr verhandelt - dann habe ich das Gästehaus für mich alleine.

Raus aus den nassen Klamotten und rein unter die heiße Dusche. Deren Strahl massiert wohltuend die angefressenen Rückenmuskel. Rasiert, frische Wäsche angezogen und rüber zum Schwimmbad. Nun ja, das mit dem aufrechten Gang muß ich wieder lernen. Leider gibt es eine Enttäuschung: die Türen des Schwimmbades sind verschlossen und ein Zettel weist auf die Öffnungszeiten während des Sommers 07 hin. Das scheint das Problem zu sein: es ist nicht mehr Sommer! Zurück im Gästehaus lege ich mich wieder hin, bis eine dritte Dame erscheint und das Frühstück bestätigt. Ich frage sie ob das Schwimmbad geschlossen wäre? Kein Problem - sie müsse nur schnell den Schlüssel von zuhause für mich holen. Das ist Island. Eine viertel Stunde später habe ich das Freibad ganz exklusiv für mich. Ich sitze im Hot Pot und betrachte das dramatische Spiel der Föhnwolken am Himmel über dem Tal. Der Sturm pfeift durch die Bretter des Windschutzes, schlägt Wellen im Schwimmerbecken und treibt einen Plastikstuhl den Beckenrand entlang. Abgetaucht, heißes Wasser bis zu Nase, einfach nur treiben lassen und genießen so lange ich will.

Was will man mehr? Der Sommer ist vorbei, das Hochland liegt hinter mir und und ich habe den Schwimmbadschlüssel.

* * *


Zurück zu Inhalt