8. Tag, Noršlingalęgš

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Copyright © 2004 Dieter Graser

Sonntag, 4. Juli 2004


Der Wille war da, aber so ganz geschafft habe ich es trotzdem nicht. Immerhin komme ich vor 8:00 Uhr los. Einige hohe Wolkenfelder treiben über den Himmel. Dünne Nebelbänke umziehen die höheren Teile des Gletschers im Süden und auch den Hang auf der anderen Talseite. Auch am Hvannadalshnúkur hängt eine Nebelbank knapp unterhalb des Gipfels. In der sogenannten Nacht hat es weniger stark gefroren, als ich gehofft habe. Trotzdem komme ich den Genuß von ein paar hundert Meter Abfahrt mit Pulka. Schnell habe ich somit die Talsohle des Gletscherstromes erreicht. Ihre Breite hätte ich mit 1 -2 km geschätzt, tatsächlich sind es gut 5 km. Das erhöht auch die Dimension des Gegenhanges beträchtlich. Im Tal liegt grobkörniger Altschnee, keine Spur der Neuschneefälle letzter Woche. Hier hatte es wohl geregnet. Von Zeit zu Zeit quere ich in spitzem Winkel 10 - 20 cm breite, aber über 100 m lange Risse. Erste Anfänge einer Spaltenbildung. Die Risse sind tief, dunkel und verlaufen alle parallel. Nur selten kommen Ski und Pulka in Gleiten. Das heißt der Ski kommt beim jedem Diagonalschritt in eine Gleitphase, die jeden Schritt um 20 - 30 cm verlängert. Sobald es auch nur ein klein wenig bergauf geht ist es damit vorbei. Mein Vorwärtskommen kann ich an der sich langsam verschiebenden Perspektive auf den Austurbjörg, der östlichsten Felsinsel der Esjuföll, abschätzen.

Noršlingalęgš
Der Gegenanstieg beginnt früher als erwartet mit einer flachen Rampe. Meine Gehgeschwindigkeit sinkt rapide. Dennoch ich fühle mich stärker als die letzten Tage, benötige weniger Pausen und habe Spaß an dem Anstieg. Offensichtlich habe ich wieder meine Tourenform erreicht. In weiten Kehren ziehe ich meine Spur den Hang hinauf. Der Schnee wird mit steigender Höhe wieder feinkörniger aber auch weicher. Das Wetter hat sich gebessert. Die Sonne ist wieder hervorgekommen. Die hohen Wolkenfelder sind grenzenloser Bläue gewichen und alle Nebelbänke haben sich aufgelöst.

Zur Mittagspause sitze ich gemütlich auf der Pulka. Müsliriegel reizen mich heute nicht. Ich fische das Brotzeitbrettl, Vollkornbrot und eine ungarische Salami aus der Pulka. Die Pause verlängert sich durch meine Genußsucht, aber deshalb bin ich doch hier! Schier unendliche Weite und Ruhe umgibt mich. Die Sonne brennt herunter und wird von einer blendend weißen Schneefläche wie von einem Spiegel reflektiert. Wie in jeder Pause schmiere ich mich erneut mit Sonnencreme ein und ziehe den weißen Fettstift über die Lippen. Schließlich raffe ich mich auf und gehe weiter. Links, rechts, links, rechts. Immer habe ich das rythmische Vorstoßen der Skispitzen vor den Augen. Hinter mir pflügt gleichmäßig rauschend die Pulka durch den Schnee und tut ihr bestes sich nicht zu schwer zu machen. Habe als Ski immer noch den rot-blauen Fischer E99 von 1997. Seit der Fimmvöršuháls-Abfahrt am Ostersonntag 2000 ist an jedem der beiden Ski die Innenkante gebrochen. Hatte vor dieser Tour vergeblich versucht irgendwo einen neuen Ski aufzutreiben. Fehlanzeige - so bin ich immer noch mit den alten Latten unterwegs. Pflege inzwischen ein fast sentimentales Verhältnis zu gewissen Teilen meiner Ausrüstung.

Der Nachmittag wird länger und länger und die Steigung nimmt und nimmt kein Ende. Langsam schieben sich die Kverkfjöll wieder über den weißen Horizont und schräg, rechts hinter mir entdecke ich den Snęfell. Auch der Heršubreiš wächst langsam neben den Kverkfjöll empor. Es sind untrügliche Anzeichen, daß ich das "Dach des Vatnajökull" wieder erreicht habe. Nun wird die Größe des Gletschers auch sichtbar. Keine eintönig, weiße Fläche, sondern weit geschwungene Rücken und Kuppen, von Wolkenschatten gefleckt und kulissenartig abgestuft. Kaum mehr Wind. Jacke und Handschuhe werden mir zu warm. Immer wieder halte ich an um das Bild in mich aufzunehmen.

Vatnajökull
Mein Traum ist wahr geworden: ich bin auf dem Vatnajökull! Allein, aus eigener Kraft, und mit der mir eigenen Geschwindigkeit. Der große Gletscher gewährt mir Audienz und freundliche Bedingungen. Irgendwie kommt es mir noch ganz unglaublich vor. Seitdem ich irgendwann in diesem Winter den Entschluß gefasst habe meinen alten Plan in Wirklichkeit umzusetzen gab es keine Nacht in der ich nicht vor dem Einschlafen in Gedanken schon unterwegs war. Ich wußte nicht wie es sein wird. Ich wußte nicht, ob ich mir nicht zuviel zumuten werde, ob das Ding nicht zu groß für mich ist, ob ich dieser Tour mental gewachsen bin. Meine Gedanken an die kommende Tour waren immer auch von einer leichten Angst begleitet. Diese Sorge war mir aber auch ein wichtiges Regulativ um die Risikofaktoren möglichst niedrig zu halten. Nun bin ich hier. Ich stehe nicht mehr diffusen Sorgen gegenüber, sondern befinde mich Auge in Auge mit dem großen Gletscher. Ich habe keine Angst. Ich bin wachsam, versuche alle Zeichen der Natur um mich herum und alle Zeichen in mir zu beobachten. Permanent läuft eine Checkschleife die jede Veränderung registiert. Ich bin allein, kann die Verantwortung nicht deligieren und abschieben. Hier auf dem Gletscher kann ich nur reagieren und mit Geduld und Erfahrung mein begrenzten Kräfte und Ausdauer so einsetzten, daß ich mich langsam Kilometer für Kilometer, Stunde für Stunde ein wenig weiter schiebe. Im Moment bin ich nichts als ein kleiner, dunkler Punkt irgendwo in der weißen Fläche nördlich der Esjufjöll. Ich genieße es mit jeder Faser und mit jedem Atemzug.

Die Schneeoberfläche ist vollkommen glatt, fast samtig, mit einzelnen glitzernden Eiskörnchen. Endlich habe ich die höchste Stelle dieser riesigen, flachen Kuppe erreicht. Es ist kurz nach 16:00 Uhr. Hier bleibe ich! Erst mit den Ski, dann mit den Stiefeln verdichte ich den Schnee zu einem festen, ebenen Platz für das Zelt. Diese Vorbereitungen benötigen etwa 20 Minuten, aber der Aufwand lohnt sich. Auf einen Windschutzwall kann ich heute verzichten. Wenn er gerade nicht ganz eingeschlafen ist, kommt der Wind aus Nordosten - dem unkritischsten Sektor. Der Himmel zeigt keine Anzeichen, daß sich das schnell ändern würde. Bleibt das Wetterfenster noch weiter offen? Ich glaube nicht, daß ich es von hier aus in zwei Tagen zu den Grímsvötn schaffe. Dazu bräuchte ich härteren und schnelleren Schnee. Gegen 24:00 Uhr sinkt die Sonne für zweieinhalb Stunden unter den Horizont. Wird das ausreichen, daß es so kalt wird, daß die Schneekruste besser gefriert? Im Schlafsack liegend bis 22:00 Uhr an den Aufzeichnungen des Tages.


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